Queere Geschichten sind seltsamerweise keine Selbstverständlichkeit. Weder in der Literatur noch in der Gesellschaft. Dabei leben in Deutschland mehr Lesben als türkischstämmige Menschen, in der Schweiz mehr Leute mit gleichgeschlechtlichen Liebeserfahrungen als weisse männliche Rentner und in Österreich mehr trans Personen als 2018 Geflüchtete aufgenommen wurden.
In einer idealen Welt sind es aber nicht Zahlen, die darüber entscheiden, von wem erzählt, wer gesehen und wer gehört wird, sondern Neugier und Offenheit. Eine vielfältige Gesellschaft tauscht sich aus und versucht sich gegenseitig zu verstehen. Immer wieder von Neuem. Sie geht mit Vielfalt um.
Das heisst vor allem: Sie kann Widersprüche aushalten und sieht Reibung nicht als unüberwindbaren Widerstand, sondern als Herausforderung, die Wärme erzeugt.
Mit Glitter suchen wir die Kontroverse. Nicht die polemische, sondern die grundsätzliche. Denn das heisst für uns «queer»: Wir fordern die übermächtige Heteronormativität heraus, weil sie uns alle mit eiserner Faust im Griff hält: Queers genauso wie heterosexuelle cis-Menschen. Was für kinderlose Frauen der Druck ist, Kinder zu kriegen, ist für trans Menschen der Druck, sich zu outen.
Was für Schwule der Druck ist, nicht zu tuntig zu wirken, ist für heterosexuelle Männer der Druck, «stark» zu sein. Was für Bisexuelle der Druck ist, sich zu «entscheiden», ist für Lesben der Druck, nicht unsichtbar gemacht zu werden.
Wir alle leben mit Normen, diesen tief verinnerlichten, althergebrachten Stimmen, die uns zuflüstern: Mach das so, nein, ganz bestimmt nicht so, du sollst nicht, du musst! Schäm dich!
Mit Glitter setzen wir uns über sie hinweg und suchen nach neuen, treffenderen, einzigartigen Stimmen. Als Ghostbuster unter den Literaturzeitschriften saugen wir die inneren Gespenster auf und entwerfen an ihrer Stelle neue, präzisere Sprachbilder. Denn das ist es, was Literatur kann: Worte und Sprache finden, um innere und äussere Welten in Einklang zu bringen und Schönheit zu schaffen.
Für die dritte Ausgabe von Glitter haben das 30 ausgezeichnete Autor*innen in
vier Kurzgeschichten
einer Graphic Novel
einem Romanauszug
einem Essay
einem Emailwechsel
einem Theaterstück
einem Songtext
zwei Langgedichten und
siebzehn Mikrotexten
getan.
Viel Spass mit der ersten und einzigen queeren Literaturzeitschrift im deutschsprachigen Raum!
Herausgeber*innen: Ivona Brđanović, Huy Do, Johannes von Dassel, Kathrin Maurer und Donat Blum
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Mirjam Wittig findet im Langgedicht «(DANACH weiß ich jetzt nicht) was soll es bedeuten» ohne Punkt und Komma das gleichzeitig dümmste und wahrste Wort. — S. 12
Johannes Koch folgt in der Kurzgeschichte «Heartbreak Hotel» dem Elvis-Presley-Song und einem Match von 93 Prozent bei «Sex». — S. 15
Lou Meili verwebt die Körperlichkeit einer sterbenden Katze mit Beziehungen, die sich auflösen und schafft eine Sprache ohne Geschlechtszuschreibung. — S. 23
Maurizio Onano lässt in in einem exklusiven Sequel seiner gleichnamigen Graphic Novel für Glitter «Oma Herbert» und ihre Freund*innen in Bild und Text aufleben. — S. 28
Ralph Tharayil analysiert in einer lyrischen Erzählung Männlichkeit beim Basketballspiel. — S. 35
Annette Hug sondiert in «Q» mit Adrienne Rich, inwiefern das lesbische Kontinuum gegen toxische Männlichkeiten im Stil von Thomas Hürlimann helfen könnten. — S. 43
Zuckerklub besingt in «Zimmer für Immer» die Zweisamkeit gegen die Welt. — S. 48
Lynn Takeo Musiol & Eva Tepest han- geln sich in «Margaux», einem reduktionistischen Emailwechsel, vom Patriarchat über die Begierde nach Worten bis zur Kleinstadt B. — S. 50
Darja Keller erzählt in «Herrndorf» von der Begegnung der Ich-Erzählerin mit Maria — bei Bier, auf der Matratze und bei der Lektüre von Plüschgewitter. — S. 58
Martin Frank entlarvt in «Kleines Salonstück» die Ressentiments eines bürgerlichen Schweizer Haushalts gegenüber homosexuellen Vätern und Schwarzen Kindern. — S. 64
Samantha Bohatsch oszilliert in der Reading Performance «She Said» zwischen Deutsch und Englisch genauso wie zwischen dem Ich, dem Du und dem Sie einer (verflossenen?) Beziehung. — S. 78
Joachim Helfer reflektiert in einem Auszug aus seinem aktuellen Roman- manuskript auf einem Spaziergang durch den Tiergarten Scham und Unsicherheiten eines intergenerationellen Paars. — S. 82
In siebzehn Mikrotexten erzählen Anna Rosenwasser, Casjen Griesel, Fabian Hischmann, Severin Hallauer Martina Clavadetscher, Mischa Badasyan, Selina Hauswirth, Ivana Žic,
Jovin Brandherd, Ramona Gloria Ammann, Werner Rohner, Felix Helmut Wagner, Konstanze Schnetzer, Sophie Reyer, Rebecca Gisler, Kevin Junk und Joris Bas Baker in Form von Gedichten, Inseraten, Romanauszügen, Comic-Strips, Listen und Lexikoneinträgen von all dem, was literarische Vielfalt ausmacht. — ab S. 90